AFRIN-DEMO IN BERN: 50 DEMONSTRIERENDE NACHTRÄGLICH FREIGESPROCHEN AFRIN-DEMO IN BERN: 50 DEMONSTRIERENDE NACHTRÄGLICH FREIGESPROCHEN

Die Flut an ungerechtfertigten Strafbefehlen gegen Demonstranten kommt den Kanton Bern teuer zu stehen.

(Michael Bucher, bernerzeitung.ch 27.06.2022)

Nach über vier Jahren kommt eine von der Polizei aufgelöste Kundgebung den Kanton Bern teuer zu stehen. Die Strafkammer des Berner Obergerichts hat diesbezüglich in grosser Anzahl Strafbefehle aufgehoben und in Freisprüche umgewandelt. Dies bestätigt der Berner Rechtsanwalt Dominic Nellen auf Anfrage. Bekannt sind ihm rund 50 Personen, die nun nachträglich freigesprochen wurden. Einige davon hat er selbst vertreten.

Konkret geht es um die Afrin-Demo vom 7. April 2018 in der Stadt Bern. Kurden und linke Kreise demonstrierten an jenem Nachmittag unbewilligt gegen die türkische Militäroffensive in der nordsyrischen Stadt Afrin. Während des Umzugs kam es vereinzelt zu Sprayereien an Trams und Hauswänden, weshalb ein Grossaufgebot der Kantonspolizei die Demo in der Spitalgasse einkesselte. Trotz polizeilicher Aufforderung, die Kundgebung zu verlassen, verharrten 239 Personen an Ort. Sie alle wurden danach auf den Polizeiposten gebracht. Später hagelte es rund 140 Anzeigen wegen Landfriedensbruchs.

Kettenreaktion ausgelöst

Heute ist klar: Die Demoteilnehmerinnen und -teilnehmer wurden zu Unrecht gebüsst. Auslöser war eine junge Frau, die sich gegen den Strafbefehl gewehrt hatte und im Herbst 2020 vom Berner Regionalgericht recht erhielt. Im Gegensatz zur Staatsanwaltschaft sprach das Gericht der damaligen Kundgebung eine «friedensbedrohliche Grundstimmung» ab. Insofern reiche der blosse Verbleib an der Demo nicht aus für eine Verurteilung wegen Landfriedensbruchs.

Der Freispruch machte eine Kollegin, die nicht gegen ihren Strafbefehl vorgegangen war, hellhörig. Sie reichte ein Revisionsgesuch ein, welches diesen März vom Obergericht gutgeheissen wurde. Es gebe einen «unverträglichen Widerspruch» zwischen den Strafentscheiden der beiden Frauen, fanden die Richter.

Der Leitentscheid führte allerdings nicht dazu, dass sämtliche Strafbefehle automatisch aufgehoben wurden. Die Betroffenen mussten einzeln ein Revisionsgesuch einreichen – und dies innert einer Frist von 90 Tagen. Rechtsanwalt Dominic Nellen kritisierte damals die umständliche Praxis gegenüber dieser Zeitung. Damit möglichst viele Verurteilte überhaupt vom Leitentscheid erfahren, hatte etwa die Vereinigung Demokratische Juristinnen und Juristen Bern schon früh zu einer Infoveranstaltung inklusive Beratung im Dachstock der Reitschule geladen.

Nach Ablauf der Frist haben laut Nellen nun 50 Personen von der Möglichkeit der Revision Gebrauch gemacht und auch recht erhalten. Ihnen muss die Staatsanwaltschaft nun die Bussen zurückzahlen. Die Verfahrenskosten werden dem Kanton auferlegt. Zudem erhalten die Demonstrierenden eine Entschädigung von 100 Franken, weil sie mehrere Stunden in den Festhalteräumen im Neufeld verbringen mussten.

«Teuer und umständlich»

Ein Freispruch hat im Einzelfall Kosten von rund 2000 Franken zur Folge, wie ein Urteil zeigt, das dieser Zeitung vorliegt. Die ungerechtfertigte Anzeigenflut kostet den Kanton Bern folglich um die 100’000 Franken. «Diese Revisionswelle war teuer und umständlich für die Berner Justiz», sagt Rechtsanwalt Dominic Nellen dazu, «ich hoffe, dass bei Demonstrationen inskünftig zurückhaltender mit Strafanzeigen und Verurteilungen umgegangen wird.»

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